SCHAURIGE GERÄUSCHE IN DER ABENDRUHE


Es begab sich in einer dunklen, dunklen Winternacht, daß Isolde zum ersten Mal die unheilverkündenden Geräusche vernahm.
Ein Winter, so hart und kalt wie seit einem Lebensalter nicht mehr, hielt das Land in seiner kalten Hand; der Schnee lag meterdick und erstickte alles, was sich noch regte. Grimmiger Frost drang durch alle Ritzen der Häuser bis an die Herdfeuer heran, an die sich die Menschen Tag um Tag, Nacht um Nacht kauerten im Verlangen nach ein wenig Wärme. Niemand, der es verhindern konnte, wagte sich vor die Türe, es sei denn, um Wasser für die dünne Suppe oder Holz für das Feuer zu holen.
Einige verwegene Kerle aber zogen mit großen Schlitten von Dorf zu Dorf, allerlei Waren feilzubieten, welche die von der Außenwelt Abgeschnittenen gerne doppelt bezahlten. So erzielten sie große Gewinne, wenngleich auch manch einer von ihnen später verirrt und erfroren im Wald gefunden wurde. Sie erzählten, daß selbst die großen Ströme Daun und Firinal bis auf Metertiefe zugefroren waren und man ohne Boot beliebig hinüber gehen könne.
Allein der Hunger trieb die Wölfe der Helmhöhen hinunter in die Ebenen, und der Wald ringsum hallte wider von ihrem Geheul, und sie wagten sich bis in die Nähe der Dörfer, überfielen einsame Wanderer.
Solcherart waren die Zustände im Lande, als Isolde eines Nachts die schaurigen Geräusche hörte. Nicht das Geheul der Wölfe war es, nicht das Schreien von Menschen, es sei denn in höchster Not; doch irgendein Rufen und Jammern schien es dennoch zu sein, wenn auch ganz und gar nicht menschlich.
Da schrak Isolde aus dem Schlafe auf und - der Alptraum schien vorüber. Neben ihr schnarchten ihre Brüder, bei der Kochstelle glühte noch die Asche und irgendwo im vorderen Teil des Hauses scharrte das Vieh. In der Luft lag noch der rußige Atem des Feuers; seine Wärme war noch nicht zur Gänze entwichen und die Kälte blieb erträglich.
Ein Bild der Ruhe und Vertrautheit, Geborgenheit spendend; und dennoch: Ein langgezogener Schrei ließ Isolde frösteln, ein Wimmern, Kratzen und Schaben folgten, und zweifellos vernahm sie auch das Geklirre rostiger Ketten.
Isolde rüttelte einen ihrer Brüder wach, flüsterte: »Hör' mal! Was ist das für ein Lärm?«
Ihr Bruder schaute mehr verwundert denn grimmig drein ob der nächtliche Störung. »Was für ein Lärm? Ich höre nichts; du träumst bestimmt, Schwester.«
»Aber nein! Hör doch! Da ist es schon wieder.«
Ein Brüllen erhob sich mit solcher Lautstärke, als zwänge sich ein wahrhaftiger Drache durch die schmale Dorfstraße. Jetzt mußten wirklich alle aufgewacht sein! - Aber nichts dergleichen: niemand regte sich, und ihr Bruder lächelte nachsichtig, als wäre sie nicht ganz bei Trost.
»Ach Schwester, da ist nichts. Hab keine Angst!« Er gähnte herzhaft. »Nun laß uns wieder schlafen gehen...«
Er selbst befolgte seinen eigenen Rat unverzüglich und kaum hatte das letzte Wort gesagt, hub er auch schon wieder selig zu schnarchen an. Auch Isolde legte sich nieder, aber da gab es ein Scheppern und Krachen, als wenn ein Turm aus kupfernen Kesseln in sich zusammenstürzte.
Da war es freilich mit ihrem Schlaf endgültig vorbei. Die ganze Nacht hindurch klangen in ihren Ohren die sonderbaren Geräusche, die doch nur sie selbst zu hören schien: ein Keuchen, laut wie ein Unwetter; ein Kratzen an der Tür, Klopfen, Jammern, Schritte...
Erst als die späte Wintersonne fahl über den schneebedeckten Gipfeln des Waldes aufging, und sich Haus und Hof langsam mit Leben zu füllen begannen, kehrte Ruhe ein für Isoldes geplagte Ohren. Müde und unausgeschlafen verrichtete sie ihr Tagewerk, und obgleich die Wintertage kurz und die Arbeit nicht so hart war wie in den übrigen Zeiten des Jahres, fühlte sie sich am Abend doch sehr ermattet und legte sich sogleich nach dem Abendbrot zum Schlafen nieder.
Allein, die Ruhe war ihr nicht vergönnt, denn kaum schloß sie ihre müden Augen, da zischten und wirbelten, trommelten und krächzten auch schon wieder die geheimnisvollen Laute durch ihren Kopf. Kurzum: Ebenso erging es ihr die ganzen folgenden Nächte, und sie fand nur wenig Schlaf. Obendrein begannen die Stimmen und Laute bald auch tagsüber ihr Unwesen zu treiben, und zu keiner Zeit fand sie mehr Ruhe vor ihnen.
Ihr Vater Jan bemerkte sehr wohl, daß seine Tochter von Tag zu Tag einen unaufmerksameren und müderen Eindruck machte, und er argwöhnte, was sie wohl des Nachts triebe - mit den Knechten im Vorderhaus vielleicht. Er stellte sie darob zur Rede.
Isolde erzählte frank und frei, was sie bedrückte, obwohl sie nicht viel Hoffnung hegte, daß ihr Vater - oder irgendwer sonst - ihr Glauben schenken würde. Der alte Jan kam indes zu dem Schluß, seine Tochter sei entweder eine dreiste und obendrein sehr ungeschickte Lügnerin oder bedauerlicherweise dem Wahnsinn verfallen, und beide Möglichkeiten erschienen ihm gleichsam unerfreulich und beunruhigend. Fürs Erste allerdings bemühte er sich, als guter Vater ihre Sorgen ernst zu nehmen.
»Soso, meine Tochter«, lautete also sein wohlmeinender Rat. »Wenn dem so ist, dann gehe am besten zur Dorfhexe! Mag sein, daß sie guten Rat weiß.«
So machte sich denn Isolde in ihrer Verzweiflung auf den Weg zur Hexe, die eine Meile vom Dorf entfernt lebte. An jenem Ort hatten vor hundert Jahren drei Mönche des Verstorbenen Gottes auf einer erhöhten Waldlichtung ein Kloster erbaut, ihre Riten und Gebete zu vollziehen. Längst waren die Mönche dahingeschieden wie ihr Gott vor ihnen, und Efeu rankte sich über die heiligen Zeichen auf der Klostermauer. Das kleine Haus mit der Backsteinumfriedung und dem kleinen Kräutergärtlein wäre gewiß gänzlich verfallen, wenn nicht eben die Hexe dort eingezogen wäre.
Die Zeichen und Reliquien des Verstorbenen Gottes hatte sie hinausgeworfen, aber den Gebetsaltar der Mönche verwandte sie nun für ihr unheiliges Tun, und er diente ihr gewiß nicht schlechter als seinen alten Herren.
Da hockte sie denn, die Hexe, auf dicken Wolldecken in der zweckentfremdeten Kapelle und ließ es sich gut gehen. Hinter ihr hing an der Wand ein alter, fast verblichener Zauberteppich, vor ihr prasselte das offene Herdfeuer, auf dem sie ihre zauberischen Tränke braute und rund um sie herum verteilten sich noch allerhand andere Utensilien, die sie benötigte für ihr geheimes Tagewerk, alsda waren Totenschädel, Mörser und Stößel, Kräuter und seltene Minerale, ferner Fläschchen und Tinkturen, Salben, vergilbte Pergamentrollen und Bücher und nicht zuletzt eine hübsche Kugel aus reinem Bergkristall.
Ja, die Hexe war bewandert in vielerlei Zauber. Gegen gute Bezahlung - wenn sie fröhlichen Sinnes war, auch für ein gutes Wort - half sie den Menschen der nahegelegenen Dörfer bei ihren kleinen und großen Gebrechen, half bei Geburten, segnete die Felder, wie es einst die Mönche getan in früherer Zeit, wußte klugen, wenngleich bisweilen hintersinnigen Rat und, nur im Verborgenen und heimlichtuerisch flüsternd, tat sie auch manchesmal einen Blick in die Zukunft mit ihrer Kristallkugel.
Viele Zauber nannte sie ihr Eigen, gegen Keuchhusten, Warzen, schwarzen Tod und gegen steife Gelenke: allein das Wetter war nicht ihr Metier, und sie litt nicht weniger unter Winter und Frost als die anderen Leute. Keine Zauberei kannte sie, sich Wärme zu verschaffen, als die allgemein verbreitete Kunst des Feuermachens.
So fand denn Isolde die Hexe sich die kalten Finger reibend und seltsame Sprüche murmelnd an diesem Wintertage vor. Ein großer Kessel hing blubbernd über dem Feuer, spie manchesmal blaue, manchesmal rote Dämpfe aus, und bunte Rußflocken tanzten zu des Mädchens Füßen einen absonderlichen Reigen. Vor dem Feuer lagen zusammengerollt die beiden rotäugigen Katzen der Hexe, die eine schwarz, die andere weiß. Sie hörten, wenn sie in gehorsamer Stimmung waren, auf die Namen Plum und Bum.
Weder sie noch die Hexe schenkten Isolde die geringste Beachtung, vielmehr fuhr die Hexe fort, alte Silben zu sprechen über ihr glucksendes Zaubergebräu. Da sie wohlerzogen war, schloß Isolde also die Tür, trat ein wenig, nicht zu nah, an das wärmende Feuer und wartete im übrigen artig auf die Aufmerksamkeit der Hexe.
Es zischte, brodelte, rumorte ein wenig, sodann stob kurz ein Funkenregen aus dem Kessel auf, verscheuchte Plum und Bum von ihrem behaglichen Schlafplatz und erlosch mit einem lauten Puff. Die Hexe sackte erschöpft zusammen, verzog den Mund, als wäre ihr Essig anstelle von Wein zu trinken gegeben worden, und machte derweil ein ausgesprochen mürrisches Gesicht.
»Schon wieder etwas falsch«, brummte sie halblaut, »und beß'res Wetter ist kaum in Sicht. Verdammte Sch...«
»Ähem«, machte sich Isolde dezent bemerkbar. »Darf ich...«
»Was?« Die Hexe hob zerstreut den Kopf. »Ah, mein Kind, was führt dich her?«
»Darf ich Euch stören?«
»Warum nicht?« Die Hexe seufzte, um aber sogleich mit ihren Nörgeleien fortzufahren. »Es macht jetzt sowieso nichts mehr aus. Seit Tagen versuche ich, etwas Frühling in mein Haus zu holen, aber es will mir nicht gelingen. Irgendwas stimmt mit den alten Aufzeichnungen nicht...« Sie kramte zerstreut in ihren Schriftrollen, bis sie sich wieder ihres Gastes zu erinnern schien.
»Aber was führt dich her, mein Kind? Isolde heißt du, Tochter des alten Jan, nicht wahr? Du bist gewiß nicht gekommen, um mir einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Keine Katze würde ich bei diesem Wetter vor die Tür jagen.«
Isolde sammelte ihren Mut. »Das stimmt. Ich brauche Euren Rat...«
Und so erzählte Isolde die Geschichte von den grausigen Geräuschen, die sie bei Tag und Nacht quälten. Die Hexe machte einstweilen ein nachdenkliches Gesicht, dann lächelte sie aufmunternd.
»Nun gut, Isolde, liebes Kind, dies Geheimnis werden wir schnell ergründen«, sagte sie und hub an, mit den Händen Beschwörungen von äußerst grotesker Art auszuführen, bis sie endlich ihre Kristallkugel nahm und wichtigtuerisch hineinsah.
»Ahhh, ohh, ach so...«, murmelte sie vor sich hin, bis sie schließlich erkannte: »Das ist der Grund!«
»Habt Ihr etwas erfahren?« fragte Isolde vorsichtig.
»Natürlich, mein Kind. Aber setze dich doch. Es ist eine lange Geschichte.«
Gehorsam setzte sich das Mädchen auf einen Teppichzipfel, und Plum und Bum kamen sogleich herangeschnurrt und ließen sich auf ihrem Schoß nieder.
»Es ist eine lange Geschichte«, wiederholte die Hexe mit veränderter Stimme. »Vor langer, langer Zeit, in fernen Weltaltern, verehrten die Menschen den großen Gott Turbisgalman, von dem in unserer Zeit allenthalben nicht einmal mehr der Name überliefert ist, und nur die Weisen haben ihn noch nicht völlig vergessen. Seinerzeit war er allerdings der größte und berühmteste aller Götter, und alle Tage im Jahr wurden ihm edle Opfer dargebracht, ward er auf das unterwürfigste und zufriedenstellendste verehrt.
Doch die Zeit nagt unablässig an den Dingen, die sind, und am Ende bezwingt sie sogar Götter, die sich doch unsterblich wähnen. Im Laufe der Jahrtausende nahm die Verehrung für Turbisgalman ab, die Gläubigen wandten sich anderen, jüngeren Götzen zu und vergaßen ihren einstigen Herrn. Gerät ein Gott aber in Vergessenheit und findet keine, die ihn anzubeten bereit sind, so ist es mit seiner Pracht und Herrlichkeit und seiner Stärke vorbei. So geschah es auch mit dem stolzen Turbisgalman, und große Müdigkeit kam über ihn, und er legte sich zum Schlaf nieder gerade hier in diesem Lande. Die Äonen gingen dahin, und alte Gebirge versanken und neue stiegen auf an ihrer statt. Dort, wo Turbisgalman in tiefem Schlummer liegt, erheben sich nun die Helmhöhen...«
»Entschuldigung?«, frug Isolde. »Diese Geschichte ist sehr interessant, aber was hat sie mit den Geräuchen zu tun, die ich nächtens höre?«
Die Hexe lächelte. »Du sollst es sogleich erfahren. Die ganze Zeit hindurch schlief Turbisgalman friedlich, aber in diesem Winter sind Kälte und Frost von solcher Stärke, daß sie bis in seine tiefe Gruft dringen und ihn quälen im Schlaf, aus dem er erst erwachen kann, wenn die Menschen seiner wieder in religiöser Absicht gedenken. Die Stimmen, die du hörst, mein Kind, sind die Geistesschreie, die ausgeformten Alpträume des Turbisgalman.«
»Aber warum höre nur ich sie, niemand sonst?«
»Wer kann das sagen«, entgegnete die Hexe achselzuckend. »Zu diesem Punkt schweigt meine Kugel.«
»Und was ratet Ihr mir zu tun?«
»Ausgezeichnet, mein Kind! Wie ich sehe, hast du Sinn für das Wesentliche. Hm...« Die Hexe überlegte kurz, ließ ihren Blick über ihre verstreute Habe schweifen und nahm schließlich ein Garnknäuel auf. »Hier nimm! Das ist Zaubergarn bester Qualität. Webe daraus ein Tuch von zwei Ellen Breite und drei Ellen Länge. Das soll deine erste Aufgabe sein. Wenn du fertig bist, komme wieder!«
»Wieviele Aufgaben muß ich erfüllen?« fragte Isolde.
»Drei natürlich!« rief da die Hexe aus, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf Erden. »Man hört doch in jedem Märchen, daß drei Taten vollbracht werden müssen, um einen Fluch zu brechen. Aber vollbringe du, mein Kind, zunächst mal die erste, dann werden auch die anderen nachfolgen.«
Isolde nahm also das Zaubergarn und begab sich auf den Heimweg, begleitet von der Kälte des Winters und den Schreien, die nur sie alleine hören konnte und die sie in keinem Augenblick ganz verließen. Als sich die anderen nach dem Abendbrei vor dem Herdfeuer zusammenkuschelten und sich wohl die eine oder andere Geschichte, gruselig, erbaulich oder belehrend, erzählten, machte Isolde sich an die Arbeit am klapprigen Webstuhl.
Sie hätte gewiß die ganze Nacht durchgearbeitet, wenn ihre Brüder nicht dagegen protestiert hätten, weil es sie nach Schlaf verlangte und das Klappern des Webstuhls ihnen ähnlich unangenehm war in der Nacht wie Isolde die geheimnisvollen Geräusche. So kam es, daß die Brüder ruhig schliefen, das Mädchen aber ruhelos dalag, unfähig Schlaf zu finden angesichts der Schreie des wunderlichen Gottes.
Und am nächsten Morgen mußte sie mit anpacken bei den alltäglichen Pflichten in Haus und Stall, bevor sie sich endlich wieder ihrer Webarbeit zuwenden konnte. So nimmt es nicht Wunder, daß die Arbeit nur langsam voranschritt, zumal es sich ja noch dazu um Zaubergarn handelte, das ja bekanntlich so seine Tücken hat. Zwar ging es nie zuende, aber Isolde benötigte ob gewisser anderer zauberischer Eigenschaften gut das Fünffache an Zeit, die sie bei normalem Garn für den kleinen Teppich gebraucht hätte.
Endlich aber hatte ihr Werk die erforderlichen Abmessungen erreicht, und sie begab sich flugs zur Hexe. Diese wies zwar auf einige, kleine Unaufmerksamkeiten hin, die ihr beim Weben unterlaufen waren, zeigte sich im übrigen aber durchaus zufrieden.
»Was ist mit den schaurigen Stimmen in deinem Kopf?« fragte sie mit etwas übertriebener Fürsorglichkeit.
»Sie sind so laut und stark wie immer«, beklagte Isolde sich. »Niemals geben sie Ruhe.«
»Das wird schon werden«, tröstete sie die Hexe. »Bedenke: du hast zunächst die erste von drei Verrichtungen ausgeführt, die vonnöten sind, den Bann zu brechen!«
»Dann sagt mir, was sonst noch zu tun ist!«
»Dein Eifer ist erfreulich und in höchstem Maße lobenswert; aber zuerst ist die Reihe an mir, zur Wirkung unseres gemeinsamen Zaubers beizutragen.«
Mit diesen Worten nahm die Hexe zur Hand die steinerne Schale, in welcher seinerzeit die Mönche ihr Weihwasser aufbewahrt hatten. Nun, die Hexe verzichtete freilich nur zu gerne auf einen derart heiligen Stoff; vielmehr rührte sie in der Schale einige zauberische Essenzen zusammen, gab Kräuter dazu und eine Prise Salz. In diese Mischung tauchte sie den kleinen Teppich und murmelte mancherlei Beschwörungen.
»Es ist vollbracht«, sagte sie schließlich und gab Isolde den nassen Teppich zurück. Sie holte eine Rolle purpurroten Garnes hervor. »Hiermit mußt du jetzt einige Zeichen auf den Teppich sticken. Sieh her: In die Mitte ein Pentagramm und in die vier Ecken je eine von diesen Zauberrunen...« Sie zeichnete besagte Runen deutlich auf, daß das Mädchen sie sich gut einprägte.
Mit diesem Auftrag kehrte Isolde nachhause zurück und fragte sich, ob die Zauberei wohl nur aus Nähen, Weben und Sticken bestünde. Jedenfalls stürzte sie sich mit solchem Eifer auf die Arbeit, daß sie ihre häuslichen Pflichten gänzlich vernachlässigte. Das brachte ihr zwar nicht geringen Ärger ein mit ihren Eltern und ihren Brüdern, aber immerhin waren die Stickereien nach zwei Tagen fertig, und das auch noch zur vollsten Zufriedenheit der Hexe.
»Ausgezeichnet«, rief sie entzückt, als sie das gute Stück in den Händen hielt. »Gute Arbeit.«
Isolde hockte alldieweil sehr müde beim Feuer. Bum hatte wenig Erfolg, sie durch fortwährendes Anstupsen zum Streicheln zu bewegen. Bald gesellte er sich wieder zu Plum auf der Hexe Schoß. »Dann nennt mir die dritte Aufgabe«, bat Isolde, wenngleich ihre trüben Augen nur wenig Unternehmungsgeist ausstrahlten. Sie wäre gewiß sofort eingeschlafen, wenn nicht die Stimmen derzeit mit besonderem Nachdruck ertönt wären.
»Damit hat es noch etwas Zeit«, bemerkte die Hexe. »Wir kommen nicht umhin, auf den Neumond zu warten.«
»Aber das sind noch drei Tage bis dahin!« »Ich kann es nicht ändern, mein Kind. Der Zauber soll doch wirken, oder?«
»Na gut, und was muß ich tun?«
»Hm...« Die Hexe rieb sich das Kinn. »Bist du... äh... noch unberührt?«
Diese indiskrete Frage weckte Isolde letztendlich doch aus ihrem Schlummer. »Ich weiß nicht, was das...?« begann sie empört, wurde aber sogleich von der Hexe unterbrochen.
»Es ist von nicht geringer Bedeutung für die Durchführung des Zaubers«, erklärte sie. »Nur bei einer Jungfrau kann er seine ganze Wirkung entfalten.«
»Wenn das so ist. Nun gut, ich bin noch Jungfrau.« Isolde schummelte bei dieser Behauptung ein wenig, aber da es die Wirkung des Zaubers nicht beeinträchtigte, machte das gar nichts.
»Fein«, bemerkte die Hexe entzückt und senkte sodann ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Nun höre: In der Nacht des Neumondes nimmst du den Teppich und ein scharfes Messer und begibst dich in eine verborgene Ecke eures Hauses, damit dich keiner bei dem Ritual stört. Genau um Mitternacht mußt du dir nämlich in den Finger schneiden und etwas von deinem Blut träufeln auf die Ecken des Pentagramms und die vier Runen; sodann sprich folgende Silben...«
Der Wortlaut des Zaubers ist nicht überliefert, es kann jedoch nicht bezweifelt werden, daß Isolde alles so tat, wie die Hexe es verlangte. Am Morgen nach besagter Neumondnacht kam sie jedenfalls zur Hexe mit verbundenem Finger und vollendeten Teppich.
»Alles habe ich getan, wie Ihr es wünschtet«, beklagte sie sich, »aber noch immer plagen die Stimmen mich.«
»Sie haben nicht nachgelassen in ihrem unangenehmen Wirken?« fragte die Hexe in einem Tonfall, der irgendwie scheinheilig klang. »Ich dachte allen Ernstes, der Zauber würde dir helfen.«
»Sie sind kaum leiser geworden...«
»Das ist höchst bedauerlich. Sei meines Mitgefühls versichert«, meinte die Hexe. Sie stand auf von ihrem wollenen Lager, nahm den alten, verblichenen Zauberteppich von der Wand und hängte den nagelneuen an seine Stelle. Zufrieden betrachtete sie ihre Neuanschaffung. »Da es offenbar außerhalb meiner Kräfte liegt, die Stimmen zu vertreiben, werde ich allerdings von einer Bezahlung für meine Dienste absehen.«
»Aber könnt Ihr wirklich nichts mehr tun?« fragte die brave Isolde verzweifelt.
»Nein, mein Kind...«
»Irgendetwas, Turbisgalman aus meinen Gedanken zu vertreiben?«
Die Hexe zuckte die Achseln und kraulte Bum, die sich auf ihrem Schoß niedergelassen hatte; Plum tollte derweil mit dem nie zuendegehenden Zaubergarn herum. »Da der Zauber nicht funktionierte, muß wohl angenommen werden, daß der alte Turbisgalman doch nicht verantwortlich ist für dein Leiden. Meine Kugel ergeht sich bisweilen in Rätseln, die auch ich selbst nicht immer zu deuten weiß. Vielleicht hieß der Gott, der ja bekanntlich seit langem vergessen ist von den Menschen, auch gar nicht Turbisgalman - oder es gab ihn überhaupt nicht. Wer weiß, wer weiß? Ich jedenfalls nicht.«
Nun saß Isolde mit offenem Mund und höchst verwundert, gar empört da. Ihr Blick wanderte von der Hexe zu deren neuem Zauberteppich, den sie selbst mit großer Mühe gefertigt hatte; aber sie brachte kein Wort mehr hervor, denn es wäre doch von wenig höflicher Art gewesen und Isolde war trotz ihrer ärmlichen Herkunft wohlerzogen. Sie wußte, wie man mit erwachsenen Leuten reden durfte, und bei Hexen war freilich besondere Vorsicht vonnöten.
Die Hexe lächelte verbindlich. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest. Ich habe allerlei wichtige Aufgaben zu erledigen«, so sprach sie und achtete ihrer Besucherin nicht mehr und wandte sich wieder zu ihrem zauberischen Geschäft, davon man nur im Flüstertone zu erzählen wagte. Alleine sei hier erwähnt, daß ihr mit dem neuen Teppich die Magie nun wieder leichter von der Hand ging, zu ihrem eigenen und bisweilen auch zu anderer Leute Nutzen.
Was aber mit der braven Isolde geschah, ist nicht überliefert, doch erzählten die Leute im Dorfe an kalten Winterabenden noch Jahre später davon, die seltsamen, schaurigen Geräusche in ihrem Kopf hätten dem armen Mädchen bald den Verstand geraubt, und sie sei noch vor Ende des Winters schreiend und kichernd davongelaufen in den Wald, wo sie gewiß ein wenig erbauliches Ende genommen hatte.
Dies mag zutreffen - oder auch nicht; aber sicher ist, daß keiner mehr sah Isolde im Dorf seit jenem Winter, da die Wölfe von den Helmhöhen herabkamen, Daun und Firinal zufroren und unhörbare Laute ihren Geist verwirrten.

Ende


 
 
 
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