EIN WINTERTAG



Der Mann zog den Reißverschluß seines Mantels bis zum Kinn hoch; den Kopf hielt er tief zwischen die Schultern gebeugt, als könnten diese ihm so ausreichenden Schutz vor der Witterung spenden. Der Wind fegte über die weite Fläche des Sees und riß die letzten verschrumpelt-verfärbten Blätter von den Ästen der Platanen, die den Uferweg säumten. Die Luft war klar und kalt; der Himmel hatte die Farbe von bläulich schimmerndem Eis angenommen, das die Wintersonne nicht zu schmelzen vermochte. Ihr Licht schien fahl, unfähig, der Landschaft ihre sonst so warmen Farben zu entlocken. Alles wirkte blaß wie auf einer schlechten Photographie.
»Wenn man endlich klar sieht, verblassen die Farben«, murmelte der Mann. Sein Gesicht war gerötet von der Kälte; die Falten auf der Stirn und in den Augenwinkeln waren tief eingekerbt; die Mundpartie wirkte schlaff. Ein trauriges Gesicht, zu müde, um noch lebhafte Emotionen wiederzuspiegeln. Ein altes Gesicht, in dem die Jahre ihre Verwüstungen hinterlassen hatten.
Er stemmte sich gegen den Wind und folgte dem Weg unter den schaukelnden Ästen der Platanen. Er war allein im vormittäglichen Park, nicht einmal ein Jogger zog wie sonst üblich seine Bahn.
Der Mann seufzte. Dort stand eine Bank am Weg. Der grüne Lack war stumpf und blätterte von dem mit Rissen überzogenen Holz ab. Ein Blätterhaufen hatte sich unter ihr gesammelt. Diese Bank war sein Lieblingsplatz an besseren Tagen; dann saß er hier und spähte über den See, schaute den Enten und Schwänen zu, oder den Tauben. Stets strich Wind über die Wasserfläche, und der alte Mann bildete sich gerne ein, daß er darin eine Vielzahl fremder Gerüche wahrnehmen konnte und manchmal sogar ferne Geräusche und Stimmen, von der tobenden Luft von einem unbekannten Ursprung davongetragen über Meilen und Meilen.
Doch dieses Mal roch er nichts, und er hörte keine Stimmen. Er war allein.
Er setzte sich auf die Bank und starrte eine ganze Weile auf den Ufersaum, blicklos, und er sah auch nichts. Er war einsam.
Er rieb sich die Augen, griff in die Tasche seines Mantels und holte einen zerdrückten Briefumschlag hervor. Das Papier war vergilbt. Die Briefmarke gehörte zu einer Serie, die schon seit längerer Zeit nicht mehr im Gebrauch war. Empfänger und Adresse waren mit krakeliger Schrift eingetragen, wie in großer Hast auf das Papier geworfen.
Der alte Mann starrte auf den Umschlag, die Stirn in tiefe Falten gelegt, den Mund zu einem mißmutigen Ausdruck verzogen. Vorsichtig riß er den Umschlag auf, entfaltete das Blatt, das sich darin befand und las:

Mein Bruder,
eine lange Zeit ist vergangen seit jener Nacht. Ich hoffe, Du hast mittlerweile Deinen Frieden gefunden. Ich ringe noch um den meinen, und dieser Brief ist einer der Versuche, Frieden mit Dir und mir selber zu schließen.
In der ersten Zeit war ich ruhelos. Ich haßte Dich und Claudia für das Leid, das ihr mir zugefügt habt, und ich haßte mich selbst für meine Schwäche und Hilflosigkeit.
Claudia hat mich verlassen einige Monate später. Ich weiß jetzt, sie tat es nicht wegen Dir sondern wegen mir. Ich trage den Hauptteil der Schuld. Du gabst ihr nur, was ich nicht geben konnte. Du brachtest ein Lächeln auf ihre Lippen, wo ich es noch nicht einmal vermißt hatte. Du hast ihr eine Hoffnung gegeben, der ich nicht gerecht werden konnte.
So hast du mein Leben zerstört, und dennoch wäre Dir dies nicht gelungen, wenn ich es nicht selbst schon über die Jahre ausgehöhlt hätte, ohne es zu bemerken. Ich glaube, ich kann Dir jetzt verzeihen, und ich hoffe, du verzeihst mir auch, was ich gesagt und getan habe. Ich glaube, du fehlst mir, und ich würde Dir gerne wieder die Hand reichen. Die Vergangenheit können wir nicht ändern, aber sie soll nicht länger ein Graben zwischen uns sein.
Dein Bruder Karl


Der alte Mann faltete den Brief wieder zusammen und schob ihn zurück in den Umschlag. Er erhob sich und setzte seinen Weg durch den Park fort. Seine Gedanken waren in einem merkwürdig schwebenden Zustand gefangen: Die Gegenwart interessierte ihn nicht, und die Vergangenheit war zu verschwommen in der Erinnerung, als daß er sie noch fest hätte greifen können. Nur einige klare Bilder und Gefühle boten ihm Halt.
Von der Kirche am Rande des Parks klangen einzelne Fetzen von Gesang und düsteren Orgeltönen herüber. Die Messe war in vollem Gange. Der alte Mann war schon lange nicht mehr zur Kirche gegangen, und auch jetzt würde er nicht wieder damit anfangen. Er verabscheute die Starrheit der Rituale, die Floskeln und die fromme Verlogenheit. Wenn es einen Gott gab, dachte er, so würde er mit ihm auch ohne die Vermittlung eines Pfaffen Zwiesprache halten können. Wenn es denn einen Gott gab...
Der alte Mann schüttelte den Kopf und ließ die Kirche und ihre Gebete hinter sich. Eine ganze Weile schritt er an der grauen, unverputzten Friedhofsmauer entlang, bis er schließlich zu einem vergitterten Tor kam, dessen Flügel weit offenstanden.
Die Leichenhalle war ein modernes Bauwerk aus kühn geschwungenen Betonelementen, mit großen Fenstern und schrägem Flachdach. Sie fügte sich so gar nicht ein neben der Mauer und den alten, knorrigen Bäumen.
Der Mann verlangsamte seinen Schritt, als scheute er diese letzte Begegnung. Der metallene Türgriff fühlte sich kalt an in seiner Hand. Mühelos drückte er die Tür auf. Die Halle lag in fahlem Dämmerlicht vor ihm. Erleichtert stellte er fest, daß sie noch leer war. Das würde nicht mehr lange so bleiben; die Messe war sicherlich bald zu ende, aber so blieb ihm zumindest noch ein kleiner Moment der Ruhe.
In der Mitte der Halle stand ein Sarg aus dunklem Holz auf einem Podest, umrahmt von Gestecken und Kränzen. Eine Kerze brannte mit ruhiger Flamme, die nur leicht flackerte, als der Mann sich näherte.
Mit verkniffenem Mund musterte er den Sarg. Eine einzelne Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel. Erneut holte er den Brief hervor und legte ihn mit zitternder Hand auf das dunkle Holz.
»Es tut mir leid, mein Bruder«, flüsterte er mit matter Stimme. Er räusperte sich, als könnte er auf diese Weise seine Beklommenheit abschütteln. »Es tut mir entsetzlich leid. Diesen Brief schrieb ich schon vor so langer Zeit, aber ich habe nie den Mut aufgebracht, ihn auch abzuschicken. Jetzt ist es zu spät, mein Bruder. Verzeih mir.«
Er trat zurück und setzte sich auf einen der bereitgestellten Stühle. Schweigend wartete er auf die anderen Beerdigungsgäste.

Ende


 
 
 
  Impressum: Andreas Metz, Raderthalgürtel 5, 50968 Köln, Tel. 0221/841740, Email doriol@alcana.de
Erklärung: Alle Inhalte auf dieser Website, insbesondere die Texte, sind urheberrechtlich geschützt und verbleiben Eigentum des Autors. Eine Veröffentlichung (auch auszugsweise) bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Autors.
Datenschutzerklärung