BLÄTTER IM HERBST



Das Restaurant in der Rue des Abesses war eng und schäbig. Ein halbes Dutzend kleine Tische zwängten sich zwischen die schiefen Wände des Gastraumes. Die Kellnerin saß am Tresen und kaute auf ihren Nägeln. Nach einer Weile hielt sie inne und betrachtete ihre Finger wie nach einer Maniküre. Es gab wenig zu tun an diesem Abend. Nur ein Tisch war besetzt, und dem Paar, das dort saß, gelang es nicht, Leben in den Gastraum zu bringen. Vielmehr schien es so, als trügen sie eine unangenehme, bedrückende Form des Schweigens mit sich, die an ihnen haftete wie ein Schatten oder ein übler Geruch.
Der Mann stocherte lustlos in seiner Vorspeise und starrte abwechselnd auf das fleckige Tischtuch und die Leute, die draußen auf der Gasse den Montmartre hinaufschlenderten. Er fand keinen Gefallen an dem malerisch-heruntergekommenen Ambiente, an dem Taboulé, das für seinen Geschmack zuviel Zitronensaft und zuwenig Pfefferminze abbekommen hatte, und an der ganzen Situation. Am allerwenigsten Gefallen fand er an sich selber, aber diesen letzten Gedanken hatte er an den Rand gedrängt und seine bewußten Gedanken mit Leere und oberflächlicher Gleichgültigkeit gefüllt. Sein Gesicht spiegelte diese Gleichgültigkeit nur allzu deutlich wider.
Die Frau saß in steifer Haltung auf ihrem Stuhl. Ihr Essen hatte sie mit einer kurzen Bemerkung, die nach »zuviel Salz« klang, gar nicht erst angerührt.
Er hatte daraufhin in übertriebenem Eifer gefragt: »Hast du etwas? Sollen wir woanders hingehen?«
Ohne ihrer Stimme auch nur den Anschein von Wärme zu geben, hatte sie erwidert: »Nein, nein, es ist nichts. Iß ruhig!«
Seither herrschte Schweigen.
Lange hatte sie sich gefragt, woher sie ihre Kraft nahm, diesen verlorenen Weg weiterzugehen. Mittlerweile hatte sie jedoch erkannt, daß sie gar keine Kraft mehr erübrigen konnte für ihn und ihre einstigen Gemeinsamkeiten. Sie folgte nur dem alten Trott, weil das bequemer war als auszubrechen.
Sie wußte, sie würde ihm nie die Wunden verzeihen, die er ihr zugefügt hatte, und noch viel weniger konnte sie mit den Wunden umgehen, die sie selbst ihm geschlagen hatte.
Wie sie früher verzückt dem Klang seiner Stimme gelauscht hatte, ganz gleich worüber er sprach? In diesem Klang, diesem Fluß aus Worten hatte sie Geborgenheit empfunden. Das war längst vergangen, auch wenn die Erinnerung an die alten Gefühle sie noch in manchen Momenten umfing. Wenn er jetzt sprach, machte sie die Kälte seiner Stimme frösteln, und wann immer er doch noch Zuneigung zu erkennen gab, wich sie vor der Nähe zurück. Stets, wenn sie zusammen waren, drückte ihre Haltung Distanz und Widerwillen aus, und diese Distanz war längst nicht nur für ihn, sondern auch für sie unüberwindbar geworden.
Die Kellnerin warf einen Blick zur Uhr und rutschte träge von ihrem Hocker. Sie schlenderte zum Tisch des Paares hinüber und fragte im nuschelnden Slang von Paris: »Sind sie fertig mit der Vorspeise?«
»Danke«, sagte er und lächelte gezwungen. Hastig rückte er die Serviette so zurecht, so daß sie einen Großteil des gelben Grießes bedeckte.
Sie nickte nur stumm.
Die Kellnerin ergriff beide Teller. »Hat es Ihnen geschmeckt?« fragte sie und war schon wieder auf dem Weg zur Theke, ohne eine Antwort abzuwarten.
Ein kurzer Moment der Stille folgte, in der sie fast spüren konnte, wie er um eine Möglichkeit rang, die peinliche Pause zu überspielen. Schließlich hob er sein Weinglas.
»Prost.«
Sie stieß mit ihm an, trank, dann glitt ihr Blick zum Fenster und verlor sich auf der gegenüberliegenden Häuserwand, wo der Putz bereits von Rissen und größeren Lücken überzogen war. Er tippte unruhig mit dem Finger auf die Tischplatte, aber er unternahm keinen weiteren Versuch zur Konversation.
Endlich kam die Kellnerin zurück. »Einen großen Salatteller für die Madame, bitte sehr. Und Hähnchenbeine für den Monsieur.« Sie musterte mit abfälligem Blick die noch kaum geleerte Weinkaraffe und kehrte wieder zu ihrem Platz am Tresen zurück, ihre eigenwillige Maniküre wieder aufnehmend.
Er machte sich sogleich über sein Essen her. »Guten Appetit«, nuschelte er zwischen zwei Bissen und setzte noch hinzu, wie um sich zu entschuldigen: »Huhn muß man mit den Fingern essen. Alles andere ist ein Stilbruch.«
Sie reagierte nicht auf seine Bemerkung. Er sagte das immer; es war eine Art Ritual, längst ohne echte Bedeutung. Wahrscheinlich denkt er an gar nichts, wenn er das sagt, überlegte sie. Ich vermute, er denkt sowieso sehr oft an gar nichts! Der Gedanke belustigte sie kurz, doch dann verfolgte sie etwas angewidert seine kräftigen Kaubewegungen und, wie er den Knochen anschließend in den Mund nahm, um die letzten Fleischfetzen abzulutschen, als wäre er ein Bonbon.
Hastig senkte sie den Blick, trank einen Schluck Wein und stocherte dann unschlüssig in ihrem Salat herum. Gedankenverloren kaute sie auf einem Salatblatt. Sie ertappte sich bei der Überlegung, wie sie auf diesem schlaffen, trägen Gesicht neue Regungen und etwas Lebhaftigkeit hervorrufen könnte, vielleicht den Ausdruck von Furcht oder Entsetzen. Eine kurze, beiläufige Bemerkung könnte schon genügen, beispielsweise: »Du, Schatz, ich will mich scheiden lassen.«
Sie stellte sich genüßlich vor, wie ihm der Knochen, den er gerade abnagte, aus der Hand fiel, sich seine Augen weiteten. Die Kaubewegungen erstarben und seine Miene nahm einen ungemein begriffsstutzigen Ausdruck an. So ungefähr mußte ein Autofahrer aussehen, der soeben seinen Wagen gegen eine Wand gefahren hat und noch gar nicht begreifen kann, was passiert ist.
»Was sagst du?« fragte er mit einem Zittern in der Stimme. »Warum willst du dich scheiden lassen?«
Ihr selbstzufriedenes Lächeln erstarb. Mit Erschrecken stellte sie fest, daß sie es nicht nur gedacht, sondern auch wirklich gesagt hatte. Sie hatte es ausgesprochen! Sie hatte einen Schritt gemacht, vor dem sie sonst immer zurückgeschreckt war. Jetzt konnte sie nicht mehr so leicht zurück.
»Ich möchte nicht so leben«, sagte sie.
Seine Augenbrauen zogen sich mißbilligend zusammen. Sie kannte ihn gut: Er kämpfte mit sich und seinem Zorn, der schon oft aufgeflammt war in ihren Krisen. Er hatte sie eine Nörglerin genannt, eine ewig Unzufriedene. Hatte herumgepoltert und geschrieen, als könnte er mit bloßer Kraftanstrengung ihre Probleme aus dem Weg räumen.
Jetzt hatte er sich erstaunlich gut in der Gewalt. Offenbar hatte er erkannt, daß sie unversehens an einem Wendepunkt standen. Seine Züge wurden weich, ja fast flehend. »Aber Schatz, wir haben doch schon so oft über alles gesprochen. Ich dachte, wir hätten uns wieder gefangen und befänden uns auf dem richtigen Weg.« Warum mußt du meine Ruhe mit deiner Zickerei stören? Diese letzte Frage stellte er nicht, aber sie spürte sie deutlich in seinen Worten mitschwingen.
»Nichts ist in Ordnung! Was meinst du, wie lange ich noch warten will?« Plötzlich brachen die Worte aus ihr hervor, als wäre eine unsichtbare Barriere unter einem großen, über eine lange Zeit aufgebauten Druck zerborsten. »Irgendwann bin ich alt und muß feststellen, gar nicht richtig gelebt zu haben.«
Ihre Worte fuhren wie Schnitte in seine Seele. Sie sah ihm an, wie er litt. Seine Mundwinkel zuckten, während er nach Worten rang; seine Augen nahmen einen glasigen Ausdruck an. Sie litt beinahe mit ihm, ihre eigenen Worte bereiteten ihr fast körperliche Schmerzen, und stärker noch ihre feindseligen Gedanken.
Doch gleichzeitig spürte sie, wie ein Druck von ihr wich. Aus einer bislang ungekannten Reserve strömte ihr neue Kraft zu, und sie schob ihre Bedenken beiseite. Sie fühlte sich wie eine Ertrinkende, die in ihrer Verzweiflung endlich festen Halt gefunden hatte und zuallererst ihr eigenes Leben retten mußte. Wenn sie zögerte und zurückblickte, würde sie untergehen.
»Ich will nicht mehr«, bekräftigte sie.
»Aber...«, er rang sich das Wort mit großer Überwindung ab, doch danach gab er zunächst nur einige unartikulierte Laute von sich. Zerfahren rieb er sich die Stirn, ohne zu bemerken, daß seine vom Geflügelfett triefenden Finger glänzende Spuren auf seiner Haut hinterließen. Er schluckte heftig. »Ich dachte, es wäre besser jetzt. Ich...«
»Nichts ist besser«, fuhr sie ihn an. »Nur weil ich aufgegeben habe, die Dinge anzusprechen, hat sich doch nichts an unserer Situation geändert. Für dich vielleicht, weil du deine Ruhe hast, aber nicht für mich.«
»Aber wir haben doch soviel geändert. «
Sie verdrehte die Augen. »Genau das ist der Grund! Für dich ist dieses Bißchen schon viel, und für mich ist es kaum ein Anfang. Das läßt mir keine Hoffnung. Du wirst nie begreifen, was ich wirklich brauche. Oder du hast es längst begriffen, bist aber nicht bereit, darauf einzugehen. Ich weiß nicht, welche von diesen Möglichkeiten mir weniger gefällt.«
Sein Gesicht war versteinert. Er sagte nichts mehr, doch aus dem Augenwinkel stahl sich eine kleine, einsame Träne. Sie wandte den Blick davon ab.
»Wenn ich dich trete, gibst du dir eine Weile Mühe, aber vieles wirkt so aufgesetzt und unnatürlich, und schnell verfallen wir wieder in den gleichen Trott. Ich bin auch nicht besser. Im Grunde ändert sich gar nichts, außer daß wir uns gegenseitig wehtun und immer weiter voneinander entfernen.«
»Du meinst, wir haben keine Hoffnung mehr?« fragte er mit leiser Stimme und gab zu: »Ich bin auch müde.«
»Ich glaube, wir haben unsere Möglichkeiten nicht genutzt, und jetzt ist es zu spät. Du bist mir vertraut und doch gleichzeitig so fremd. Mir kommt es vor, als hätte ich dich nie wirklich kennengelernt. Ich habe das Gefühl, mit einem Fremden zu sprechen.« Sie hatte ihre Ruhe wiedergefunden, und dennoch trieb sie ihre Entschlossenheit weiter. »Wir haben das versaut, alle beide. Und wenn du den letzten Schritt nicht machen kannst, ich werde ihn gehen.«
Er nickte kraftlos. Er hatte wieder seine ausdruckslose Miene aufgesetzt, doch seine Mundwinkel hingen merklich herunter.
»Ich habe mich entschieden«, behauptete sie, aber sie zögerte. Der schwerste Teil des Weges lag direkt vor ihr. Die Trennung würde schmerzen, und sicher würden Zweifel und Wunden zurückbleiben, und das Gefühl, versagt zu haben. So leicht wie jetzt würde dieser entscheidende Schritt jedoch niemals wieder sein. Sie mußte diese Gelegenheit nutzen. Ihr Verstand hatte den Entschluß schon vor langer Zeit gefaßt, doch ihre Gefühle zerrten sie in mehrere Richtungen zugleich. Sie atmete tief durch und nickte, wie um sich selbst in ihrem Willen zu bestärken.
»Das ist das Ende«, sagte sie. »Ich gehe jetzt.«
Er vergrub das Gesicht kurz in den Händen, bevor sie aufstand, Jacke und Handtasche packte und mit wackeligen Knien zur Tür ging. Draußen sog sie die kühle Herbstluft in ihre Lungen, und ihr kam es so vor, als nehme sie plötzlich eine Vielzahl von Gerüchen wahr, die ihr zuvor nicht aufgefallen waren. Das abendliche Sonnenlicht wirkte weniger fahl, die Farben schienen ihr klarer und kräftiger geworden zu sein. Sie wunderte sich, wie wenig es wehgetan hatte. Sie war frei...
»Was sollen wir gleich unternehmen«, riß sie seine Stimme aus ihren Gedanken.
Er hatte sein Essen beendet und saß mit zufriedenem Gesichtsausdruck vor seinem Teller voll abgenagter Knochen. Mit der Serviette rieb er sich das Fett von den Fingern. Sie schüttelte den Kopf, um ihren Tagtraum zu vertreiben. Enttäuscht nahm sie wahr, daß gar nichts vorgefallen war. Alles war wie immer. Das letzte Wort war noch nicht gesprochen, der letzte Schritt noch nicht getan. Sie ließ sich zurückfallen in das Geborgenheit spendende Gefühl des Gewohnten und Vertrauten.
»Ich weiß nicht. Vielleicht noch ein Spaziergang.« Dabei fällt das Schweigen nicht so auf, dachte sie in einem Anflug von Resignation.
»Gute Idee«, sagte er mit aufgesetztem Lächeln. »Wir könnten zur Sacre Coeur schlendern.«
»Einverstanden«, sagte sie, und in ihre Augen trat ein Anflug von Wärme und Leben. Sie mochte diese blütenweiße Basilika, die in denkbar großem Kontrast aus dem schäbiggrauen Häusermeer aufragte, sehr gerne, und den Ausblick von den Treppen davor genoß sie mehr als alles andere. Dort oben zu stehen, gab ihr das Gefühl von Freiheit.

Ende


 
 
 
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